Lonely Planet: Das Reiseführer-Sinnbild des Wunsches nach dem Andersreisen
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Bist du Tourist oder reist du schon?

Ich reise gerne. Ich reise oft. Im Studium war das Reisen einer meiner Forschungsschwerpunkte. Das ist wohl auch der Grund dafür, dass mich das Reisen nicht nur in der Praxis, sondern auch in der Theorie interessiert. Nachdem ich vor einer Weile einen Artikel über die Frage geschrieben habe, wie sehr das Internet das Reisen verändert hat, habe ich von euch viele Kommentare erhalten, die sich vor allem mit einem Phänomen beschäftigten: Reisende neigen dazu, andere Reisende abfällig als Touristen zu bezeichnen. Warum ist das so? Und was unterscheidet Touristen und Reisende eigentlich?

Reisen war schon immer ein Merkmal sozialer Abgrenzung. Noch vor 50 Jahren waren Fernreisen fast unbezahlbar und viele Reiseziele nur schwer zu erreichen. Eine Flugreise war etwas ganz besonderes. Wer es sich leisten konnte, in den Urlaub zu fahren, hatte seinen Mitmenschen etwas voraus. In den Anfängen des modernen Massentourismus war das Reisen noch elitär.

Weil große Entfernungen heute in kürzester Zeit und zu günstigen Preisen zurückgelegt werden können, kann ein Großteil der Bevölkerung reisen. Das ist prinzipiell schön, aber es ist auch problematisch. Denn es gibt keine weißen Flecken mehr, nichts Neues zu entdecken, keinen Platz, an dem noch niemand aus dem Bekanntenkreis vorher war. Wenn jeder überall hin kann, müssen wir uns beim Reisen nicht mehr in der Quantität von anderen absetzen, sondern in der Qualität.

Wir alle streben deshalb danach, anders (sprich: besser) zu reisen als unsere Mitmenschen. Das Andersreisen hat sich längst zu einer Industrie etabliert, weil niemand mehr zugeben möchte, ein ganz normaler Tourist zu sein. Touristen sind nämlich die Leute, die mit Kamera, Reiseführer und Socken in den Sandalen bewaffnet eine Sehenswürdigkeit nach der anderen abklappern und die am Urlaubsort morgens mit der nachgesendeten Zeitung in der Hand und dem gewohnten weich gekochten Ei am Frühstückstisch sitzen.

Der Erfolg von Reiseführern wie zum Beispiel der Lonely-Planet-Reihe erklärt sich aus diesem Phänomen. Der Lonely Planet ist die Bibel einer ganzen Generation von Backpackern und Andersreisenden, selbsternannten wahren Reisenden, die sich als Gegenpol zum dummen Touristen verstehen.

Doch weil selbst Lonely-Planet-Leser sich stets an denselben – im Reiseführer empfohlenen – Orten tummeln, taugt auch das (vermeintliche) Reisen abseits der Touristenpfade nicht dazu, sich von anderen Reisenden abzugrenzen. Und so entsteht in einer scheinbar harmonischen Gruppe ein Klassendenken. Dass die eigene Art zu reisen die beste ist, steht dabei immer außer Frage.

Was aber unterscheidet den Reisenden dann überhaupt vom Touristen?

Man könnte diese Frage auch anders formulieren: Sind nicht alle Touristen Reisende und alle Reisenden Touristen?

Freya Stark, eine britische Schriftstellerin und Entdeckungsreisende, versuchte bereits Anfang des 20. Jahrhunderts in ihren Reiseberichten einen qualitativen Unterschied zwischen Touristen und Reisenden zu finden. Anders gesagt: einen Unterschied zwischen dem kompromisslosen Einlassen auf einen bestimmten Ort und dem Versuch, diesem die eigenen Erwartungen überzustülpen. Ersteres schrieb sie dem Reisenden zu, letzteres dem Touristen. Ausschlaggebend wäre demnach also vielmehr als das Verhalten des Reisenden oder des Touristen als seine innere Einstellung.

Das ist eine mögliche Definition. Doch was, wenn sich im Prinzip alle darin einig sind, dass sie bessere Reisende sein wollen?

Während meines Studiums habe ich einmal für ein Seminar eine Befragung zum Thema Reisen durchgeführt. Darin wurde deutlich, dass ausnahmslos alle Teilnehmer (vom klassischen Mallorca-Pauschalurlauber über den Kulturreisenden bis hin zum Backpacker) sich selbst als Reisende sahen und nicht als Touristen. In den Antworten zeichnete sich nicht nur den Wunsch nach sozialer Abgrenzung ab, sondern auch die Angst, als (dummer) Tourist abgestempelt zu werden.

Man müsste meinen, dass es gar keine Touristen mehr geben kann, wenn alle Reisenden so penibel darauf achten, keine zu sein oder sich zumindest nicht als solche zu erkennen zu geben.

Und doch sind Touristen überall, ein Dorn im Auge anderer Reisender. Wir machen sie aus, um uns selbst von der Masse der Urlauber zu distanzieren. Wir fühlen uns überlegen, indem wir die Reisenden um uns herum abwerten. Dem Koreaner mit der großen Spiegelreflexkamera werfen wir vor, dass er sein Urlaubsziel ja nur durch die Kameralinse wahrnimmt. Für den bierbäuchigen Deutschen, der morgens vor dem Frühstück einen Liegestuhl per Handtuch reserviert, schämen wir uns. Über den Engländer mit Sonnenbrand lachen wir, weil das Klischee ja besagt, dass Engländer die Sonne nicht vertragen (das müssen die doch auch selbst wissen). Den Russen, der im Flugzeug einen Wodka trinkt, stempeln wir als Sauftouristen ab und selbst die Backpacker im Café am Nebentisch finden wir komisch, weil sie so krampfhaft versuchen, wahrhaftig zu reisen.

Dumme Reisende, wahre Touristen, wahre Reisende, dumme Touristen – die meisten von uns sind irgendetwas von allem.

Touristen und Reisende: Vor der Sehenswürdigkeit sind alle gleich.

Was soll das Gehabe überhaupt? Wir müssen nicht alle zu sogenannten wahren Reisenden werden, müssen weder unseren kompletten Alltag zurück lassen noch gänzlich vorbehaltlos durch die Welt ziehen, um als wahrhaftig Reisende durchzugehen. Zumindest nicht, wenn uns das keinen Spaß macht. Offene Augen, natürliche Neugier und ein der eigenen Persönlichkeit angepasstes, gewisses Maß an Entdeckergeist sind völlig ausreichend.

Letztendlich ist das Reisen schließlich eine zutiefst narzisstische Angelegenheit. Wir wollen im besten Falle etwas sehen, etwas lernen, unseren Horizont erweitern. Manch einer will einfach nur Sonne und Strand. So oder so reisen wir nur uns selbst zuliebe. Solange die Erwartungen, die wir an unsere Reise haben, erfüllt werden und wir uns darüber bewusst sind, dass wir im fremden Land Gäste sind, ist es egal, ob wir Touristen sind oder Reisende.

In Kategorie: Reisegedanken

Über den Autor

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Anna liebt das Geräusch von Regen auf einem Zeltdach, Gespräche am Lagerfeuer und Nordamerika. Sie würde einen spontanen Roadtrip jederzeit einem Tag am Pool vorziehen und ist am liebsten draußen - zum Wandern, Surfen oder Snowboarden.

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