In München ist angezapft. O’zapft, wie die Bayern sagen. Das Bier fließt. Und ich habe diese Worte in der vergangenen Woche ein paarmal zu oft gehört und gelesen. O’zapft in Hannover, eigentlich Hochdeutsch-Hochburg, o’zapft in Fulda. Am Donnerstag wird in Bingen o’zapft. Ja, in Bingen. Bingen ist eine kleine, beschauliche Stadt an Rhein und Nahe. Eine hübsche Kleinstadt inmitten von Weinbergen. Es gibt dort Weinfeste, die seit Jahrzehnten im heimischen Kalender verankert sind. Mit Bier und bayerischen Traditionen verbindet man Bingen eher nicht.
Ich möchte an dieser Stelle nicht alleine die Stadt Bingen in den Blickpunkt rücken. Bingen könnte man austauschen durch eine ganze Reihe anderer Städtenamen. Auch Mainz hat ein Oktoberfest. Auch Mainz hat viele Feste, für die es überregional und sogar international bekannt ist, und trotzdem musste irgendwann noch ein Oktoberfest her. Hannover, Heimat des größten Schützenfestes der Welt, hat ein Oktoberfest, das zweitgrößte jenseits des gerne zitierten Weißwurstäquators. In Kanada gibt es Oktoberfests, genau wie in den USA und Australien, aber auch in Vietnam und Hongkong. Das Oktoberfest im brasilianischen Blumenau – einer von deutschen Einwanderern gegründeten Stadt – hat sich nach dem traditionellen Karneval in Rio längst zum zweitgrößten Volksfest Brasiliens entwickelt.
Nur weil ein pfiffiger Veranstalter ein erfolgreiches Konzept kopiert, kommt noch lange kein Original dabei heraus.
Die Wiesn ist ein Exportschlager. Vielleicht liegt es am Bier, vielleicht am guten Marketing. Alle Welt will feiern wie München. Manche der aus diesem Wunsch heraus entstandenen neuen Oktoberfeste haben sich längst etabliert, doch jedes Jahr sprießen neue aus dem Boden. Wie aber passt ein traditionelles bayerisches Fest nach Hongkong? Mit welcher Berechtigung feiert eine Kleinstadt am Mittelrhein ein Oktoberfest? Mit welcher Berechtigung tut es irgendein Baumarkt?
Man könnte jetzt sagen, dass es doch toll ist, wenn bayerische Tradition ihren Weg in die ganze Welt findet. Ist es aber nicht. Nur weil ein pfiffiger Veranstalter ein erfolgreiches Konzept kopiert, kommt nämlich noch lange kein Original dabei heraus. Kultur und Traditionen sind dort schön, wo sie herkommen. Dort, wo sie hingehören. Auf so manchen kopierten Oktoberfesten erinnern nur noch die Maßkrüge und ein paar verkleidete Menschen an die echte Wiesn. Die Veranstaltungen, ob nun in Bingen, Hannover oder Brasilien, sind beliebig.
Oktoberfeste überall. Heißt das, dass es bald Sambaschulen in Kanada gibt und ein Weinfest in München?
So wie Bingen seine Weinfeste hat, haben alle Orte, in denen heute Oktoberfeste gefeiert werden, eigene, historisch gewachsene Feste und Traditionen. Was aber, wenn München nun anfinge, auf der Theresienwiese Weinfeste zu veranstalten, vielleicht in Kombination mit einem vietnamesischen Laternenfest? Was, wenn im Wiesbadener Kurpark ein Schützenfest gefeiert würde? Und wenn in Kanada in den Grundschulen plötzlich Samba auf dem Stundenplan stünde, für alle Kinder, die davon träumen, einmal bei der großen Karnevalsparade in Vancouver oder Alberta zu tanzen?
Was, wenn wir überall alles haben können, für das wir uns normalerweise aus unserer Komfortzone heraus bewegen müssen? Irgendwann wären alle Orte und alle Feste austauschbar. Und wir alle hätten keinen Anreiz mehr, zu reisen um fremde Traditionen kennenzulernen.
Übrigens: Anna hat überhaupt nichts gegen Oktoberfeste und Biertrinken. Im Gegenteil, sie liebt das Oktoberfest. Allerdings nur das echte…
Schon gesehen? 10 Dinge, die du über das Oktoberfest wissen musst solltest du unbedingt vor deiner Reise lesen!
Seit vielen Jahren gibt es übrigens auch ein China ein Oktoberfest, das auch so heisst. In der Stadt Qingdao. Das klingt zunächst einmal nach einem weiter entfernten Bingen. Qingdao ist aber die Stadt in der das doch recht bekannte chinesische Bier Tsingdao hergestellt wird.
Was ich nun schreibe, habe ich von einem chinesischen Freund gehört und ich habe es nie vollständig überprüfen können. Aber Qingdao war einst eine deutsche Kolonie und das Bier entstand nachweislich in dieser Zeit nach deutschem Rezept. Ich glaube, das steht sogar auf den Flaschen drauf. Mein Freund behauptete nun, dass das Qingdaoer Bierfest auf die Zeit der deutschen Kolonie zurückreicht und noch von den Deutschen eingeführt wurde. Keine Ahnung, ob das stimmt. Aber damit wäre das Oktoberfest von Qingdao doch mehr als einfach eine Kopie.
China also auch! Gut, bei der Größe des Landes ist es eigentlich nicht verwunderlich. Ich frage mich, wie das wohl ist, ein chinesisches Oktoberfest zu besuchen… Falls du es mal überprüfen solltest: Ich freue mich auf deinen Bericht!
Ich wollte schon ein paar Mal gehen, aber ich bin eben nicht so der Biertrinker.